Ihr Kopf schmerzte. Ute hatte kaum geschlafen. Erst hatte
sie sich so geschämt, dass sie Lars‘ Sachen durchsucht hatte, wobei durchsucht
zu diesem Zeitpunkt noch nicht das richtige Wort gewesen war. Sie hatte
tatsächlich nur Staub gewischt und dabei hier und da ein paar Papiere angehoben
und ein wenig durchgesehen. Aber allein das war ihr mit ihrer Intention schon
sehr unangenehm gewesen. Fündig geworden war sie nicht. Eigentlich hatte sie
nicht einmal konkret gewusst, wonach sie suchte. Natürlich, in gewisser Weise
hatte sie gehofft, die Handschrift vom Plätzchenrezept irgendwo
wiederzuentdecken, aber sie hatte nicht ernsthaft damit gerechnet. Trotzdem
empfand sie ihr Handeln als großen Vertrauensbruch und hatte sich so sehr dafür
geschämt, dass sie nicht hatte einschlafen können. Außerdem hatte sie sich
ständig gefragt, ob Lars wohl wirklich aus den genannten Gründen länger in
Paris bleiben musste oder ob mehr dahinter stecken konnte. Einerseits hatte sie
das Gefühl beschlichen, sich immer mehr in etwas hineinzusteigern, was es gar
nicht gab und ihm völlig Unrecht zu tun, andererseits hatte sie das Gefühl, ihm
auf der Schliche zu sein und weitersuchen zu müssen. All diese Gedanken hatten
sie gequält und ihr den Schlaf geraubt, so dass sie schließlich um Mitternacht
wieder aufgestanden war und noch einmal in sein Arbeitszimmer gegangen war.
Inzwischen war sie soweit, dass sie ohne Staubwedel noch einmal gezielt
nachsehen wollte. Die Sünde in Form eines Vertrauensbruchs hatte sie ihrer
Meinung nach bereits vorhin mit dem Staubwedel begangen, dann könnte sie sie
nun auch systematisch nachsehen und so entweder ihre Gedanken beruhigen, falls
sie nicht fündig würde oder aber ihr Gewissen, falls der Verdacht sich erhärten
sollte. Lars musste von dem allen ja nie etwas erfahren.
Sie kramte in seinen Schubladen herum und sah sich jegliche
handschriftliche Notizen genau an, jedoch ohne sie zu lesen, nur auf der Suche
nach dieser Handschrift. Sie dachte, dadurch, dass sie nichts las, mache sie
sich vielleicht nicht ganz so schuldig, so drang sie immerhin nicht ganz so weit
in seine Intimsphäre ein. Doch auch das systematische Durchsehen seiner
Korrespondenzen führte sie nicht weiter, es gab nirgendwo ein Schreiben, auf
dem sich diese Handschrift wiedergefunden hätte. Sie saß in seinem
Schreibtischstuhl und betrachtete ihr Hochzeitsfoto, das in einem Holzrahmen
auf dem Schreibtisch stand. Nun hatte sie den ganzen Schreibtisch durchgeschaut
und nichts gefunden, was auch nur ansatzweise verdächtig erschien. Sie hätte
das alles nicht tun dürfen, sie schämte sich. Sie hatte sich da in irgendetwas
verrannt und gefährdete durch ihre wahnwitzigen Ideen am Ende noch ihre Ehe. An
was für Dinge sie inzwischen schon dachte – allein, dass ihr der Gedanke
gekommen war, er könnte Julies Erzeuger sein. Da kam ihr plötzlich eine Idee.
Wäre er der Vater, müsste er Unterhalt zahlen und darüber würden vielleicht
seine Kontoauszüge Aufschluss geben. Nicht, dass sie ernsthaft daran glaubte,
aber sie beschloss, noch einen letzten Blick auf seine Kontoauszüge zu werfen,
bevor sie ihre fürchterliche Schnüffelei endlich und ein für alle Mal beenden
wollte. Sie glaubte sich zu erinnern, dass er seine Kontoauszüge in dem kleinen
Schränkchen aufbewahrte, in dem auch die Ordner mit dem Versicherungskram und
solchen Dingen standen. Sie öffnete die Türe und nahm den Ordner mit den
Kontoauszügen heraus. Natürlich fanden sich keine Überweisungen für Julie und
auch sonst konnte sie keine verdächtigen Transaktionen entdecken. Sie wollte
den Ordner wieder zurückstellen, als sie sah, dass die anderen Ordner, die alle
dichtgedrängt dort gestanden hatten, gekippt waren. Sie war sich unsicher, an
welcher Stelle genau der Ordner mit den Kontoauszügen gestanden hatte. Sie
verfluchte sich, so etwas hatte ja passieren müssen. Wenn sie den Ordner nun
falsch einräumte, würde er am Ende bemerken, dass sie hier herumgewühlt hatte.
Andererseits waren in dem Schrank immerhin auch Unterlagen über gemeinsame
Versicherungen, also hatte sie auch eine Berechtigung, hier etwas zu suchen,
selbst wenn diese Dinge normalerweise sein Job waren und sie sich nicht dafür
interessierte. Also musste sie nun einfach so tun, als hätte sie etwas davon
gesucht. Sie überlegte kurz und zog dann kurzentschlossen den Ordner mit der
Aufschrift Kfz-Versicherung heraus.
Ihre Schwester hatte ihr heute am Telefon berichtet, dass sie sich eine Beule
ins Auto gefahren hatte und sie würde einfach behaupten, sie hätte nachsehen
wollen, ob ihre Versicherung in so einem Fall zuständig wäre oder nicht, falls
Lars etwas merkte und nachfragen sollte. Als sie den Ordner herausgezogen
hatte, purzelten die restlichen Ordner im Schrank wie die Dominosteine
aufeinander. Sie seufzte und begann, die Ordner aufzurichten und
zusammenzuschieben, damit sie die beiden entnommenen Ordner wieder einräumen
konnte. Sie hatte es fast geschafft und wollte zum Schluss den Ordner mit den
Versicherungsunterlagen wieder zwischen die anderen schieben, als sie ihn nicht
dazwischengedrückt bekam. Er war einfach zu dick. Das konnte doch nicht wahr
sein, vorher ging es doch auch. Da sah sie, dass die letzten beiden Ordner
vorstanden und sich gleichzeitig breiter machten, als sie gefüllt waren. Wütend
drückte sie dagegen, aber sie wollte nicht richtig reingehen. Sie bemerkte,
dass irgendetwas zwischen Schrank und Ordner klemmen musste. Wahrscheinlich
hatte Lars bei diesem ganzen Chaos auch noch irgendwelche Sachen nicht richtig
abgeheftet, die nun rausgerutscht waren und alles blockierten. Ihre Aggressionen
wuchsen. Sie hätte es einfach lassen sollen, das hatte sie nun davon. Und
trotzdem, dass dieser Mann auch nicht einfach mal irgendwelche Sachen
aussortieren konnte, der ganze Kram wurde bestimmt nicht mehr komplett
gebraucht. Sie zog die beiden widerspenstigen Ordner aus dem Schrank, um zu
sehen, was dahinter klemmt und erblickte zu ihrer Überraschung nicht etwa
irgendwelche schlecht abgehefteten Dokumente, sondern irgendein
undefinierbares, dunkelblaues Stück Stoff. Sie zog es hervor und hielt eine Art
Osterkorb aus dunkelblauem Filz in der Hand. Sie war sich unsicher, ob dieses
Etwas selbstgenäht war, auf jeden Fall hatte diese Filztasche die Form eines
Hasenkopfes und die Henkel der Tasche waren gleichzeitig die Hasenohren. Was
zum Teufel machte diese Tasche hier? Sie konnte sich nicht entsinnen, dass sie
ihr Ostern begegnet wäre. Ob Lars sie als Ostergeschenk gekauft und dann
vergessen hatte, weil er sie für sich selbst zu gut versteckt hatte? Sie warf
einen Blick in die Tasche, auch wenn sie sich leer anfühlte. Ihr purzelte ein
winzig kleines Schokoladentäfelchen entgegen, darauf zwei kleine Hasen und die
Aufschrift „Weißt du eigentlich, wie lieb
ich dich hab?“. Natürlich, das waren diese Hasen aus dem Kinderbuch, sie
erkannte sie wieder. Und plötzlich erkannte sie etwas ganz anderes wieder. Ihr
fiel es wie Schuppen von den Augen. Die Hasentüte, in der er die Plätzchen
gehabt hatte und die sie bei Doro wiederentdeckt hatte. Das hier war kein vergessenes
Ostergeschenk, er hatte mit Sicherheit allen Grund, diese Tasche hier zu
verstecken. Sie stopfte die Tasche zurück und versuchte erneut, die Ordner alle
wieder in den Schrank zu quetschen, was nicht einfacher geworden war, weil ihre
Finger nun auch noch zitterten. Aber zumindest ihr Schamgefühl hatte
nachgelassen, sie war fündig geworden, wenn auch ihr Fund nicht das war, womit
sie eigentlich gerechnet hatte, aber sie hatte einen weiteren Beweis, dass sie
nicht paranoid war, sondern allen Grund hatte, misstrauisch zu sein. Sie musste
morgen unbedingt mit Susanne darüber besprechen und sich eine Strategie
überlegen, wie sie mit Lars umgehen sollte, wenn er wieder da war.
Plötzlich fragte sie sich wieder, warum er überhaupt noch in
Paris war. Vielleicht wohnte sein Hase auch in Paris. Aber nein, das konnte
nicht sein, die Plätzchen waren ja hier gewesen. Oder gab es am Ende in Paris
auch noch einen Hasen? Sie beschloss, ihn anzurufen, der Gedanke, er könnte
gerade in Paris mit einer anderen Frau im Bett liegen, schien ihr unerträglich.
*****
Lars betrachtete liebevoll Charlotte, deren Kopf an seiner
Schulter lehnte. Sie war vor wenigen Minuten eingeschlafen, nachdem sie sich an
ihn gekuschelt hatte, nachdem sie vorher bereits angekündigt hatte, beim
Zugfahren immer schläfrig zu werden. Wahrscheinlich lag es nicht nur an der
Zugfahrt, sondern vorallem an der Tatsache, dass sie letzte Nacht bestenfalls
eine halbe Stunde geschlafen hatten, dachte er zufrieden lächelnd. Seine liebe,
süße, kleine Rebellin hatte ihren Widerstand aufgegeben und nun doch mit ihm
geschlafen. Sie hatte ihn bereits den ganzen Abend verrückt gemacht und während
des Anrufs von Ute hatte sie es endgültig auf die Spitze getrieben. Danach
hatte er sie spaßeshalber aufgefordert, keine halben Sachen zu machen und es
nun auch zu Ende zu bringen, auch wenn er nicht damit gerechnet hatte, dass sie
es tatsächlich tun würde. Doch sie hatte nur gegrinst und tatsächlich
weitergemacht damit, ihn zwischen den Schenkeln zu massieren. Er hatte sie noch
darauf hingewiesen, dass sie das jetzt bitte nur weitermachen solle, wenn sie
auch wirklich mit ihm schlafen wolle, dass er sie zu nichts drängen wolle, was
sie vielleicht nicht wolle, aber dass sie nicht weitermachen dürfe, falls sie
es nicht wolle, weil er sonst vermutlich platzen müsse vor Lust. Dann hatte er
nicht mehr weiterreden können, weil er plötzlich ihre Zunge im Mund hatte.
Weitere Worte waren dann auch nicht mehr von Nöten gewesen, sie hatte sich auf
seinen Schoss gesetzt und die explosionsgefährdete Region gut verstaut. Sie
hatten unglaublichen Sex gehabt, auch wenn er so wild gewesen war, dass er
danach tatsächlich kurz eingenickt war, weil er so fertig gewesen war. Das
Problem hatte er bei Ute noch nie gehabt und es war ihm einigermaßen peinlich
gewesen, aber Charlotte hatte nur gelacht, als sie ihn mit fordernden Küssen
wieder geweckt hatte. Sie hatten sich immer und immer wieder geliebt bis zum
Morgen, an Schlaf war nicht zu denken gewesen.
Irgendwann waren sie dann doch noch kurz eingeschlafen, aber
bald wieder erwacht und gemeinsam frühstücken gegangen. Dann waren sie noch ein
wenig durch die Stadt gebummelt, bevor sie den Zug nach Hause hatten nehmen
müssen. Lars schmerzte der Gedanke, dass sich ihre Wege gleich im Kölner
Hauptbahnhof wieder trennen würden, weil sie dort schließlich jemand sehen
könnte. Er konnte seinen Blick nicht von der schlafenden Charlotte lösen. Wie
unschuldig und verletzlich sie plötzlich wirkte. Er war sich auf einmal sicher,
dass er nicht mehr länger warten konnte und etwas ändern musste, er wollte
solche Momente mit ihr nicht nur in Paris genießen können, er musste mit Ute
reinen Tisch machen.
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