Montag, 3. Dezember
Unbarmherzig klingelte der Wecker Lotte um 06.30 Uhr aus dem
Bett. Sie hätte heulen können. Ihr dröhnte der Schädel, weil sie gestern Abend
doch wieder nicht die Finger vom Tequila hatte lassen können, obwohl sie genau
wusste, dass sie ihn nicht vertrug. Sie wollte nicht aufstehen, aber sie
musste. Sie hatte um acht Uhr eine Vorlesung und musste vorher mit Schröder
wenigstens eine kleine Runde draußen gewesen sein. Noch zehn Minuten liegen
bleiben, dachte sie sich. Die Zeit konnte sie reinholen, indem sie das
Frühstück ausfallen ließ, ihr war gerade eh nicht nach Essen.
Ihre Gedanken wanderten zurück zum gestrigen Abend. Sie war
mit Doro in einer Bar auf den Ringen versackt. Es war wirklich gemütlich
gewesen, aber sie hatte zu viel getrunken. Viel zu viel. Zuerst hatten sie sich
jeder zwei Cocktails gegönnt, Strawberry Margaritas, die liebten sie beide und
schließlich wollte der Sieg gefeiert werden. Dann hatten sie eigentlich nach
Hause gehen wollen, aber kurz bevor der zweite Cocktail leer war, hatte Doro
sie gefragt, wie es denn eigentlich mit dem Herrn Professor laufen würde. Der
Herr Professor! Sie hasste es, wenn Doro Lars so nannte. Es lag immer so ein
höhnischer Unterton in ihrer Stimme. Doro konnte Lars nicht leiden, von Anfang
an nicht. Sie hatten gemeinsam ein Seminar in französischer Literaturgeschichte
bei ihm besucht und seine Art der Seminarführung war sicherlich etwas,
freundlich ausgedrückt, eigenwillig, gewesen. Fachlich war er sehr gut, da gab
es keinerlei Zweifel dran, aber die meisten Studenten mochten ihn nicht, weil
er sich nicht nur seiner fachlichen Kompetenz allzu bewusst war, sondern auch
ansonsten sehr deutlich heraushängen ließ, dass er sich in jeder Hinsicht für
den Besten hielt. Es gab diverse Gerüchte am Seminar, dass er hübschen
Studentinnen nicht abgeneigt sei, aber nie wusste jemand etwas Konkretes oder
gab es gar eine Studentin, die sich dazu bekannte, etwas mit ihm gehabt zu haben.
Dass es zu ihm passen würde, da waren sich Doro und Lotte von Anfang an einig
gewesen. Doro fand ihn allein deswegen fürchterlich, sie war überzeugte Feministin
und behauptete ab der zweiten Sitzung, sie wäre sich sicher, Lars würde die
Studentinnen proportional zu ihrer Körbchengröße mit Lob bedenken. Lotte hatte
dies nicht feststellen können. Sie selbst war vom lieben Gott relativ gut
ausgestattet worden, wurde aber von Lars konsequent nur negativ erwähnt. Er
schien die größte Freude daran zu finden, ausgerechnet ihre Aussprachefehler zu
verbessern oder speziell bei ihr zu prüfen, wie gut sie das Seminar vorbereitet
hatte. Nach der dritten Sitzung hasste Lotte ihn endgültig, weil er sie vor dem
gesamten Kurs bloßgestellt hatte, nachdem sie zu spät gekommen war und beim
Betreten des Raumes gestolpert und ihm mit ihrem Kaffeebecher in der Hand vor
die Füße gefallen war. Er hatte sie hämisch grinsend angesehen und gemeint „Ich
weiß, ich bin zum Niederknien, aber selbst solche Unterwerfungsgesten
rechtfertigen Ihr Zuspätkommen in meinem Kurs nicht, zumal, wenn Sie in Ihrer
Gier nur sich selbst mit Kaffee bedenken. In der nächsten Sitzung bringen Sie
doch bitte Kaffee für den gesamten Kurs mit.“. Lotte hatte sich mit puterrotem
Kopf hochgerappelt und natürlich war ihr kein passender Konter eingefallen,
während das Seminar johlte. Sie hätte ihm am liebsten den Rest des heißen
Kaffees als Vorschuss an eine besonders empfindliche Stelle geschüttet, aber
das konnte sie natürlich nicht tun. Im weiteren Verlauf der Sitzung wurde Lars
dann auch nicht müde zu erwähnen, dass Frau Holzheim ja freundlicherweise in
der nächsten Sitzung für Kaffee sorgen würde, so dass sie tatsächlich gezwungen
war, in der kommenden Wochen vier Kannen Kaffee anzuschleppen.
Doro hatte damals daraus gefolgert, dass er sie provoziere,
weil er auf sie stehe, was Lotte für völlig lächerlich und widersprüchlich
gegenüber Doros anderen Theorien empfand. Als sie dann jedoch zwei Wochen
später bei Lars in der Sprechstunde war und dieser sie fragte, was sie denn
abends vorhätte, eventuell wolle sie vielleicht mit ihm ein Glas Wein trinken
gehen, als kleine Wiedergutmachung, er habe schon ein klein wenig ein
schlechtes Gewissen, dass er sie genötigt habe vier Kannen Kaffee mitzubringen,
hatte Doro triumphiert. Lotte hielt es allerdings immer noch für lächerlich und
abgesehen davon hatte sie Lars auch abblitzen lassen, weil sie sich nicht
vorstellen konnte, mit so einem Widerling irgendwo etwas trinken zu gehen und
auch nicht gewusst hätte, was sie mit ihm reden sollte. Sie hatte vorgegeben
arbeiten zu müssen und er bot auch erstmal keinen Alternativtermin an, sondern
nahm es so hin.
Im weiteren Verlauf des Seminars schien er nach einer kurzen
Verschnaufpause dennoch wieder den meisten Spaß daran zu empfinden, Lotte zu provozieren.
Sie gehörte allerdings nicht zu den Menschen, die sich so etwas gefallen ließen
und die Demütigung, als sie mit ihrem Kaffee vor ihm gelegen hatte, hatte sie
geheilt, danach war sie nie mehr um einen Konter verlegen.
Eigentlich hatte Lotte in diesem Seminar eine Hausarbeit
schreiben müssen, aber sie beschloss darauf zu verzichten, da sie sich
inzwischen sicher war, er würde sie mit seiner Bewertung drangsalieren. So
suchte sie also in den Ferien seine Sprechstunde auf, um ihn um einen Schein
für aktive Teilnahme zu bitten und ihm mitzuteilen, dass sie die Hausarbeit
doch woanders schreiben würde. Er reagierte ziemlich spitz, sie hatte es nicht
anders erwartet. Tatsächlich war er dreist genug, sie zu fragen, ob sie ihn
etwa fürchte oder was ihre Motive seien. Lotte hatte keine Lust das zuzugeben,
traute sich aber auch nicht, ihm zu sagen, dass sie nicht glaubte, dass er sie
fair bewerten würde und so antwortete sie, sie habe zuviel wichtigere Dinge für
andere Seminare zu erledigen und sei hier außerdem unschlüssig mit der
Themenfindung für die Hausarbeit, sie würde da lieber ein anderes Seminar
besuchen, dass ihren Interessen näher käme. Daraufhin grinste er sie plötzlich
ganz biestig an und sagte doch tatsächlich, er habe ein Blick auf ihr
Facebook-Profil geworfen und ihrem Profilfoto nach zu urteilen, das ihm
übrigens ausgesprochen gut gefalle, könnte er sich sehr gut vorstellen, dass
sie als Hausarbeitsthema die Werke des Marquis de Sade untersuchen könne. Lotte
blieb der Mund offen stehen vor Empörung und weil sie das zweite Mal nicht die
passenden Worte fand, stürmte sie einfach türenknallend aus dem Raum. Was
dieser Kerl sich einbildete! Sie hatte gekocht vor Wut und es Doro berichtet,
die sich mal wieder in all ihren Vorurteilen bestätigt sah. Ja, Doro… und dann
gestern Abend.
Erbarmungslos rasselte der Wecker erneut los. Es half
nichts, sie musste aufstehen. Sie stürmte ins Bad, duschte, zog sich an und
ging dann schnell mit Schröder eine Runde durch das Schneetreiben. Dann
lieferte sie Schröder bei der alten Frau Klein, ihrer Nachbarin ab, die ab und
zu auf Schröder aufpasste, während Lotte unterwegs war, so hatten beide etwas
Gesellschaft und stürmte weiter zur Uni.
Auf dem Weg zur Uni musste Lotte plötzlich grinsen. Es gab
verschiedene Wege, die sie nehmen konnte, einen relativ gut bevölkerten und
einen weniger belebten, der eher versteckt war. Diesen hatte sie heute gewählt
und weil es so kalt geworden war, trug sie das erste Mal diesen Winter ihren
langen Mantel. In Köln schneite es bekanntlich eher selten und so fühlte sie
sich plötzlich an eine Szene letzten Winter erinnert, als sie den gleichen Weg,
ebenfalls in diesem Mantel und im Schneegestöber genommen hatte. Nur war sie da
nicht auf dem Weg zur Vorlesung gewesen und trug nicht einen dicken Winterpulli
unter ihrem Mantel, sondern einen Hauch von Nichts auf dem Weg zu Lars ins
Büro. Sie konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, merkte es aber erst, als
der pickelige Typ, der ihr entgegenkam, sie ebenfalls anstrahlte, weil er wohl
glaubte, das Lächeln habe ihm gegolten. Lotte riss sich zusammen und legte
einen Spurt ein, damit sie es noch pünktlich in den Hörsaal schaffte.
Wieder zu Hause fuhr sie den Rechner hoch. Sie musste
endlich die Mail von Lars lesen, gestern war sie dazu nicht mehr in der Lage
gewesen. Als sie gerade die Mail geöffnet hatte, klingelte es an der Tür. Sie
öffnete und erblickt einen großen Strauß roter Rosen, hinter dem sich ein
kleiner Mann versteckte.
„Sie sind Charlotte König?“
Lotte nickte.
„Dann ist der für Sie!“
Lotte bedankte sich und drückte dem Boten ein kleines
Trinkgeld in die Hand. Von wem konnte der sein? Lars wusste, dass sie nicht
viel von Blumensträußen hielt und von roten Rosen erst recht nicht. Sie hasste
rote Rosen. Sie suchte nach einer Karte und wurde schließlich fündig.
Liebe Charlotte,
da Du vermutlich
gerade einen Groll gegen mich hegst, weil wir unser Treffen vertagen mussten,
dachte ich mir, ich schicke Dir eine kleine Entschädigung. Du denkst, es sind
Rosen und ärgerst Dich, wie ich so dumm sein konnte zu vergessen, dass Du sie
nicht magst oder ob ich Dich gar provozieren will. Du irrst, meine Liebe,
nichts liegt mir ferner!
Zähle nach, es sind 24
Rosen, also quasi ein Adventskalender der etwas anderen Art. So wie ich mich zu
früh freuen durfte über deine vermeintliche Adventskalendermail, so wollte ich
Dir auch eine kleine Überraschung zu Teil werden lassen, nachdem der Inhalt
meiner Mail Dich vermutlich nicht zu begeistern vermochte.
Wir reden bald! Ich
freue mich auf Dich!
Dein Lars
Lotte musste trotz ihres Ärgers lachen. Er hatte es einfach
drauf, das musste man ihm lassen. Sie packte die Rosen in eine Vase und machte
sich daran die Mail, deren Inhalt sie nun ja schon ahnen konnte, zu lesen.
Sie antwortete ihm sofort, nach den Rosen konnte sie nicht
warten.
Betreff: Schneeweißchen und Rosenrot
12:47 03.12.2012
Lars!!!
Du unmögliches Ungetüm! Eigentlich wollte ich böse auf
Dich sein, bzw. ich BIN BÖSE auf Dich, aber als der Typ mit den Rosen vor mir
stand und ich mich fragte, welcher Depp mir sowas schickt, wo ich Rosen doch
hasse und Dich schon ausgeschlossen hatte und dann lese ich den Brief und muss
lachen – wie soll ich Dir da noch wirklich böse sein? Du hast es echt drauf, das
muss man Dir lassen. Naja, solange ich noch nicht jede Woche einen Blumenstrauß
von Dir bekomme, kann ich mir Deiner ja wenigstens sicher sein.
Also schön, dann reden wir am Freitag. Ich mag Dir nicht
per Mail schreiben, worum es geht, ich habe zuviel Angst, dass doch mal jemand
anderes deine Mails lesen könnte…^^1
Jetzt sitzt Du also schon wieder in Paris, der Stadt der
Liebe, Du schlimmer Finger. Ich will gar nicht wissen, was Du da tust. Oder
eigentlich will ich es doch wissen. Also schreib es mir – was machst Du heute
Abend?
Du hast es übrigens richtig erkannt – der FC hat gestern
gespielt und wir haben gewonnen! J Ich war mit Doro im
Stadion und danach in der Stadt was trinken, deswegen habe ich Deine Mail auch
eben erst gelesen, es war spät geworden gestern Abend. D.h. ich habe die Blumen
vor der Mail erhalten. Aber so war ich wenigstens vorbereitet. Es war richtig
schön gestern Abend. Fortuna ist übrigens Herbstmeister geworden, so langsam
heilt mein kleines Fußballherz. Das sollte Dich allerdings nicht dazu
veranlassen, auf dem Rest meines Herzens rumzutrampeln, dass wir uns da einig
sind, mein Freund…
Übrigens, hier schneit es wie wahnsinnig und auf dem Weg
zur Vorlesung trug ich meinen weißen Mantel, während ich durch das
Schneegestöber zur Uni rannte. Fühlst Du Dich an irgendwas erinnert?
Mach Dir warme Gedanken….
Schneeweißchen Rosenrot
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