Montag, 3. Dezember 2012

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Montag, 3. Dezember

Unbarmherzig klingelte der Wecker Lotte um 06.30 Uhr aus dem Bett. Sie hätte heulen können. Ihr dröhnte der Schädel, weil sie gestern Abend doch wieder nicht die Finger vom Tequila hatte lassen können, obwohl sie genau wusste, dass sie ihn nicht vertrug. Sie wollte nicht aufstehen, aber sie musste. Sie hatte um acht Uhr eine Vorlesung und musste vorher mit Schröder wenigstens eine kleine Runde draußen gewesen sein. Noch zehn Minuten liegen bleiben, dachte sie sich. Die Zeit konnte sie reinholen, indem sie das Frühstück ausfallen ließ, ihr war gerade eh nicht nach Essen.

Ihre Gedanken wanderten zurück zum gestrigen Abend. Sie war mit Doro in einer Bar auf den Ringen versackt. Es war wirklich gemütlich gewesen, aber sie hatte zu viel getrunken. Viel zu viel. Zuerst hatten sie sich jeder zwei Cocktails gegönnt, Strawberry Margaritas, die liebten sie beide und schließlich wollte der Sieg gefeiert werden. Dann hatten sie eigentlich nach Hause gehen wollen, aber kurz bevor der zweite Cocktail leer war, hatte Doro sie gefragt, wie es denn eigentlich mit dem Herrn Professor laufen würde. Der Herr Professor! Sie hasste es, wenn Doro Lars so nannte. Es lag immer so ein höhnischer Unterton in ihrer Stimme. Doro konnte Lars nicht leiden, von Anfang an nicht. Sie hatten gemeinsam ein Seminar in französischer Literaturgeschichte bei ihm besucht und seine Art der Seminarführung war sicherlich etwas, freundlich ausgedrückt, eigenwillig, gewesen. Fachlich war er sehr gut, da gab es keinerlei Zweifel dran, aber die meisten Studenten mochten ihn nicht, weil er sich nicht nur seiner fachlichen Kompetenz allzu bewusst war, sondern auch ansonsten sehr deutlich heraushängen ließ, dass er sich in jeder Hinsicht für den Besten hielt. Es gab diverse Gerüchte am Seminar, dass er hübschen Studentinnen nicht abgeneigt sei, aber nie wusste jemand etwas Konkretes oder gab es gar eine Studentin, die sich dazu bekannte, etwas mit ihm gehabt zu haben. Dass es zu ihm passen würde, da waren sich Doro und Lotte von Anfang an einig gewesen. Doro fand ihn allein deswegen fürchterlich, sie war überzeugte Feministin und behauptete ab der zweiten Sitzung, sie wäre sich sicher, Lars würde die Studentinnen proportional zu ihrer Körbchengröße mit Lob bedenken. Lotte hatte dies nicht feststellen können. Sie selbst war vom lieben Gott relativ gut ausgestattet worden, wurde aber von Lars konsequent nur negativ erwähnt. Er schien die größte Freude daran zu finden, ausgerechnet ihre Aussprachefehler zu verbessern oder speziell bei ihr zu prüfen, wie gut sie das Seminar vorbereitet hatte. Nach der dritten Sitzung hasste Lotte ihn endgültig, weil er sie vor dem gesamten Kurs bloßgestellt hatte, nachdem sie zu spät gekommen war und beim Betreten des Raumes gestolpert und ihm mit ihrem Kaffeebecher in der Hand vor die Füße gefallen war. Er hatte sie hämisch grinsend angesehen und gemeint „Ich weiß, ich bin zum Niederknien, aber selbst solche Unterwerfungsgesten rechtfertigen Ihr Zuspätkommen in meinem Kurs nicht, zumal, wenn Sie in Ihrer Gier nur sich selbst mit Kaffee bedenken. In der nächsten Sitzung bringen Sie doch bitte Kaffee für den gesamten Kurs mit.“. Lotte hatte sich mit puterrotem Kopf hochgerappelt und natürlich war ihr kein passender Konter eingefallen, während das Seminar johlte. Sie hätte ihm am liebsten den Rest des heißen Kaffees als Vorschuss an eine besonders empfindliche Stelle geschüttet, aber das konnte sie natürlich nicht tun. Im weiteren Verlauf der Sitzung wurde Lars dann auch nicht müde zu erwähnen, dass Frau Holzheim ja freundlicherweise in der nächsten Sitzung für Kaffee sorgen würde, so dass sie tatsächlich gezwungen war, in der kommenden Wochen vier Kannen Kaffee anzuschleppen.
Doro hatte damals daraus gefolgert, dass er sie provoziere, weil er auf sie stehe, was Lotte für völlig lächerlich und widersprüchlich gegenüber Doros anderen Theorien empfand. Als sie dann jedoch zwei Wochen später bei Lars in der Sprechstunde war und dieser sie fragte, was sie denn abends vorhätte, eventuell wolle sie vielleicht mit ihm ein Glas Wein trinken gehen, als kleine Wiedergutmachung, er habe schon ein klein wenig ein schlechtes Gewissen, dass er sie genötigt habe vier Kannen Kaffee mitzubringen, hatte Doro triumphiert. Lotte hielt es allerdings immer noch für lächerlich und abgesehen davon hatte sie Lars auch abblitzen lassen, weil sie sich nicht vorstellen konnte, mit so einem Widerling irgendwo etwas trinken zu gehen und auch nicht gewusst hätte, was sie mit ihm reden sollte. Sie hatte vorgegeben arbeiten zu müssen und er bot auch erstmal keinen Alternativtermin an, sondern nahm es so hin.
Im weiteren Verlauf des Seminars schien er nach einer kurzen Verschnaufpause dennoch wieder den meisten Spaß daran zu empfinden, Lotte zu provozieren. Sie gehörte allerdings nicht zu den Menschen, die sich so etwas gefallen ließen und die Demütigung, als sie mit ihrem Kaffee vor ihm gelegen hatte, hatte sie geheilt, danach war sie nie mehr um einen Konter verlegen.
Eigentlich hatte Lotte in diesem Seminar eine Hausarbeit schreiben müssen, aber sie beschloss darauf zu verzichten, da sie sich inzwischen sicher war, er würde sie mit seiner Bewertung drangsalieren. So suchte sie also in den Ferien seine Sprechstunde auf, um ihn um einen Schein für aktive Teilnahme zu bitten und ihm mitzuteilen, dass sie die Hausarbeit doch woanders schreiben würde. Er reagierte ziemlich spitz, sie hatte es nicht anders erwartet. Tatsächlich war er dreist genug, sie zu fragen, ob sie ihn etwa fürchte oder was ihre Motive seien. Lotte hatte keine Lust das zuzugeben, traute sich aber auch nicht, ihm zu sagen, dass sie nicht glaubte, dass er sie fair bewerten würde und so antwortete sie, sie habe zuviel wichtigere Dinge für andere Seminare zu erledigen und sei hier außerdem unschlüssig mit der Themenfindung für die Hausarbeit, sie würde da lieber ein anderes Seminar besuchen, dass ihren Interessen näher käme. Daraufhin grinste er sie plötzlich ganz biestig an und sagte doch tatsächlich, er habe ein Blick auf ihr Facebook-Profil geworfen und ihrem Profilfoto nach zu urteilen, das ihm übrigens ausgesprochen gut gefalle, könnte er sich sehr gut vorstellen, dass sie als Hausarbeitsthema die Werke des Marquis de Sade untersuchen könne. Lotte blieb der Mund offen stehen vor Empörung und weil sie das zweite Mal nicht die passenden Worte fand, stürmte sie einfach türenknallend aus dem Raum. Was dieser Kerl sich einbildete! Sie hatte gekocht vor Wut und es Doro berichtet, die sich mal wieder in all ihren Vorurteilen bestätigt sah. Ja, Doro… und dann gestern Abend.

Erbarmungslos rasselte der Wecker erneut los. Es half nichts, sie musste aufstehen. Sie stürmte ins Bad, duschte, zog sich an und ging dann schnell mit Schröder eine Runde durch das Schneetreiben. Dann lieferte sie Schröder bei der alten Frau Klein, ihrer Nachbarin ab, die ab und zu auf Schröder aufpasste, während Lotte unterwegs war, so hatten beide etwas Gesellschaft und stürmte weiter zur Uni.

Auf dem Weg zur Uni musste Lotte plötzlich grinsen. Es gab verschiedene Wege, die sie nehmen konnte, einen relativ gut bevölkerten und einen weniger belebten, der eher versteckt war. Diesen hatte sie heute gewählt und weil es so kalt geworden war, trug sie das erste Mal diesen Winter ihren langen Mantel. In Köln schneite es bekanntlich eher selten und so fühlte sie sich plötzlich an eine Szene letzten Winter erinnert, als sie den gleichen Weg, ebenfalls in diesem Mantel und im Schneegestöber genommen hatte. Nur war sie da nicht auf dem Weg zur Vorlesung gewesen und trug nicht einen dicken Winterpulli unter ihrem Mantel, sondern einen Hauch von Nichts auf dem Weg zu Lars ins Büro. Sie konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, merkte es aber erst, als der pickelige Typ, der ihr entgegenkam, sie ebenfalls anstrahlte, weil er wohl glaubte, das Lächeln habe ihm gegolten. Lotte riss sich zusammen und legte einen Spurt ein, damit sie es noch pünktlich in den Hörsaal schaffte.

Wieder zu Hause fuhr sie den Rechner hoch. Sie musste endlich die Mail von Lars lesen, gestern war sie dazu nicht mehr in der Lage gewesen. Als sie gerade die Mail geöffnet hatte, klingelte es an der Tür. Sie öffnete und erblickt einen großen Strauß roter Rosen, hinter dem sich ein kleiner Mann versteckte.
„Sie sind Charlotte König?“
Lotte nickte.
„Dann ist der für Sie!“
Lotte bedankte sich und drückte dem Boten ein kleines Trinkgeld in die Hand. Von wem konnte der sein? Lars wusste, dass sie nicht viel von Blumensträußen hielt und von roten Rosen erst recht nicht. Sie hasste rote Rosen. Sie suchte nach einer Karte und wurde schließlich fündig.

Liebe Charlotte,

da Du vermutlich gerade einen Groll gegen mich hegst, weil wir unser Treffen vertagen mussten, dachte ich mir, ich schicke Dir eine kleine Entschädigung. Du denkst, es sind Rosen und ärgerst Dich, wie ich so dumm sein konnte zu vergessen, dass Du sie nicht magst oder ob ich Dich gar provozieren will. Du irrst, meine Liebe, nichts liegt mir ferner!
Zähle nach, es sind 24 Rosen, also quasi ein Adventskalender der etwas anderen Art. So wie ich mich zu früh freuen durfte über deine vermeintliche Adventskalendermail, so wollte ich Dir auch eine kleine Überraschung zu Teil werden lassen, nachdem der Inhalt meiner Mail Dich vermutlich nicht zu begeistern vermochte.
Wir reden bald! Ich freue mich auf Dich!

Dein Lars


Lotte musste trotz ihres Ärgers lachen. Er hatte es einfach drauf, das musste man ihm lassen. Sie packte die Rosen in eine Vase und machte sich daran die Mail, deren Inhalt sie nun ja schon ahnen konnte, zu lesen.
Sie antwortete ihm sofort, nach den Rosen konnte sie nicht warten.


Betreff: Schneeweißchen und Rosenrot
12:47 03.12.2012

Lars!!!

Du unmögliches Ungetüm! Eigentlich wollte ich böse auf Dich sein, bzw. ich BIN BÖSE auf Dich, aber als der Typ mit den Rosen vor mir stand und ich mich fragte, welcher Depp mir sowas schickt, wo ich Rosen doch hasse und Dich schon ausgeschlossen hatte und dann lese ich den Brief und muss lachen – wie soll ich Dir da noch wirklich böse sein? Du hast es echt drauf, das muss man Dir lassen. Naja, solange ich noch nicht jede Woche einen Blumenstrauß von Dir bekomme, kann ich mir Deiner ja wenigstens sicher sein.
Also schön, dann reden wir am Freitag. Ich mag Dir nicht per Mail schreiben, worum es geht, ich habe zuviel Angst, dass doch mal jemand anderes deine Mails lesen könnte…^^1
Jetzt sitzt Du also schon wieder in Paris, der Stadt der Liebe, Du schlimmer Finger. Ich will gar nicht wissen, was Du da tust. Oder eigentlich will ich es doch wissen. Also schreib es mir – was machst Du heute Abend?

Du hast es übrigens richtig erkannt – der FC hat gestern gespielt und wir haben gewonnen! J Ich war mit Doro im Stadion und danach in der Stadt was trinken, deswegen habe ich Deine Mail auch eben erst gelesen, es war spät geworden gestern Abend. D.h. ich habe die Blumen vor der Mail erhalten. Aber so war ich wenigstens vorbereitet. Es war richtig schön gestern Abend. Fortuna ist übrigens Herbstmeister geworden, so langsam heilt mein kleines Fußballherz. Das sollte Dich allerdings nicht dazu veranlassen, auf dem Rest meines Herzens rumzutrampeln, dass wir uns da einig sind, mein Freund…

Übrigens, hier schneit es wie wahnsinnig und auf dem Weg zur Vorlesung trug ich meinen weißen Mantel, während ich durch das Schneegestöber zur Uni rannte. Fühlst Du Dich an irgendwas erinnert?

Mach Dir warme Gedanken….

Schneeweißchen Rosenrot

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