Samstag, 8. Dezember 2012

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Samstag, 8. Dezember

Lotte war an diesem Morgen früh aufgestanden. Sie brauchte Ablenkung und hatte beschlossen, nach über zwei Monaten endlich wieder einmal zu reiten. Ihre Tante besaß mehrere Pferde, die in einem kleinen Reitstall im Kölner Norden untergebracht waren und Lotte durfte dort reiten, wann immer sie wollte. Bis zu ihrem 18. Lebensjahr war sie fast täglich geritten, dann hatte sie nicht mehr so viel Zeit dafür gehabt, weil sie für ihr Abitur lernen musste und danach war sie in die Stadt gezogen. Sie war eine gute Reiterin, hatte aber nie Ambitionen über das Hobby hinaus gehabt, während ihre Tante bis heute noch Turniere ritt.
Lotte war um 9 Uhr im Stall gewesen und hatte sich Iphigenie, eine wunderschöne schwarze Stute und ihr absoluter Liebling, gesattelt. Dann war sie fast eine Stunde am Rhein entlang geritten und hatte die verschneite Landschaft genossen. Sie war in der Gegend aufgewachsen und genoss es immer wieder, wenn sie noch einmal in der Heimat war. Doch diesmal war es einfach wunderschön, der Schnee glitzerte in der Sonne und sie beobachtete fasziniert, wie der Schnee aufflog, wenn sie zwischendurch kurze Galopp-Phasen einlegte.
Nach dem Ausritt war Lottes Traurigkeit verflogen und sie war in Hochstimmung. Sie beschloss, für den Rest des Tages keinen Gedanken mehr an Lars zu verschwenden und stattdessen zum Weihnachtsshopping in die Stadt zu fahren. Für den Abend hatte sie sich mit Doro auf den Weihnachtsmarkt verabredet. Es würde ein wundervoller Samstag werden, ganz ohne Lars und ohne Gedanken daran, wie er Familienidyll bei Ute heuchelte.

*****

Lars saß am Schreibtisch und versuchte, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Er wollte die Seminarvorbereitung noch abgeschlossen haben, bevor am Nachmittag ein Inga und Jan, ein befreundetes Paar aus dem Golfclub, sie besuchen kamen.
Eigentlich war gestern Abend alles gut gelaufen, Ute war zwar zuerst etwas ärgerlich gewesen, weil er so spät war, aber sie schien keine Zweifel an seiner Ausrede zu hegen. Sie hatten noch gemeinsam mit Susanne einen Glühwein getrunken, dann hatte diese sich verabschiedet, worüber Lars nicht traurig war. Er hatte zwar nichts gegen sie, aber sie hatten sich einfach nichts zu sagen. Er empfand sie immer als sehr reserviert ihm gegenüber und hatte das Gefühl, jedes Mal misstrauisch durchleuchtet zu werden, wenn sie sich begegneten. Aber vielleicht bildete er es sich auch nur ein, Schuldgefühle konnten bisweilen zu einer gewissen Paranoia führen.
Im Anschluss hatte er Ute zu einem Edelitaliener ausgeführt, der den Vorteil hatte, dass man sich dort kaum unterhalten konnte, wonach ihm sowieso nicht war, als er statt Charlotte wieder Ute vor sich sitzen hatte. Es war fast wie der direkte Vergleich, die Zeit, wenn er gerade von Charlotte kam, war immer besonders hart für ihn. Ute fehlte einfach dieser Zauber, sie war langweilig. Gleichzeitig tat es ihm unendlich leid, ihr gegenüber zu sitzen und so schlecht von ihr zu denken. Er wusste, dass sie nichts dafür konnte und dass sie alles für ihn tun würde, sie war zu gut für ihn und die Hochzeit war der größte Fehler seines Lebens gewesen. Aber er hatte es nicht mehr verhindern können damals, es war zu schnell gekommen. Er war sich wirklich sicher gewesen, Ute wäre die Frau seines Lebens. Er hatte geglaubt, irgendwann in seinem Alter müsse er mal solide werden und außerdem wollte er Kinder haben und Ute war unglaublich lieb, intelligent, eine gute Hausfrau und grundsolide. Alles andere würde er sich nebenher holen, das hatte er immer getan und er sah kein Problem darin, sie beide profitierten nur davon und er tat alles dafür, dass Ute nicht beeinträchtigt wurde. Er hatte damals gehabt, man könne nicht beides haben. Er hatte lange nach einer Frau gesucht, die es an seiner Seite aushalten konnte, gleichzeitig seinen Ansprüchen standhielt und ihm den Rücken freihielt und seine Freiheiten ließ und dann eben auch noch spannend blieb. Er war zu dem Schluss gekommen, dass es sich ausschließen musste und die Mutter seiner Kinder offenbar nicht gleichzeitig für alle Zeiten spannend und sexy und gleichzeitig solide sein konnte und weil er sich sicher war, dass Ute für den soliden Part die beste Besetzung war und sie ihn abgöttisch liebte, hatte er schließlich gedacht, es spreche nichts dagegen, sie auch zu heiraten. Sie war überglücklich gewesen damals und die Monate nach der Verlobung waren tatsächlich besonders schön gewesen mit ihr.
Und dann, wenige Wochen vor der Hochzeit, kam plötzlich Charlotte in sein Leben gestolpert, im wahrsten Sinne des Wortes. Er hatte sie von Anfang an attraktiv gefunden und sich durchaus vorstellen können, sie für eine Weile in sein schwarzes Büchlein aufzunehmen, aber sie war seinen Avancen nicht erlegen, im Gegenteil. Ihr Widerstand hatte ihn umso mehr gereizt und schließlich hatte sie ihm diese Mail geschickt, mit der alles angefangen hatte. Sie hatte ihn vorführen wollen, weil sie so wütend auf ihn gewesen war, nachdem er sie in der Sprechstunde provoziert hatte. Vermutlich wäre ihr Plan sogar aufgegangen, aber dann hatte sich die Sache völlig anders entwickelt und sie hatten beide ungeahnte Seiten am anderen entdeckt. Eine Woche vor der Hochzeit hatte er plötzlich realisieren müssen, dass es die Frau, die er immer gesucht hatte, doch gab. Er fand Charlotte viel spannender als jede andere Frau in seinem Leben und er hatte sehr viele gehabt und gleichzeitig war er sich sicher, dass sie auch in jeder anderen Hinsicht die perfekte Frau für ihn war. Er hatte sich hundeelende gefühlt und nächtelang mit sich gekämpft, bis er zu dem Entschluss gekommen war, die Hochzeit platzen zu lassen. Das war zwei Tage vor der Hochzeit. Er hatte es Charlotte damals gesagt und sie war außer sich gewesen und hatte gesagt, er könne das nicht tun, sie würden sich kaum kennen, er habe doch keine Ahnung, was er da mache und würde sich das alles einreden und er könne doch nicht zwei Tage vor der Hochzeit seine Frau sitzen lassen und dass sie nicht mit ihm zusammen sein wolle, sie wolle keine Beziehung zerstören, das wäre alles nie ihre Absicht gewesen. Sie war förmlich hysterisch geworden. Lars war in sich gegangen und hatte es auch nochmal mit Frank, seinem besten Freund besprochen. Dieser hatte ihm ebenfalls zugeredet es durchzuziehen und gesagt, er sei verrückt geworden, seine Hochzeit zwei Tage vorher wegen einer Studentin platzen zu lassen. Also hatte er schließlich Ute geheiratet und war am Tag seiner Hochzeit wohl der unglücklichste Mensch dieser Welt gewesen. Gleichzeitig hatte er die ganze Zeit gute Miene zum bösen Spiel machen müssen, es war der absolute Horror gewesen. Charlotte war danach erstmal auf Distanz gegangen, damit er „sich in seiner Ehe zurechtfinden“ könne, wie sie es so schön gesagt hatte. Er hatte sich zwar irgendwie mit der Situation arrangiert, war sich inzwischen aber trotzdem sicher, er hätte Ute damals nie heiraten dürfen. Das hatte auch Charlotte inzwischen eingesehen und er glaubte, dass es ihr mehr als leid tat, ihm damals auch noch zu Utes Gunsten zugeredet zu haben. Trotzdem sprach dies natürlich in gewisser Weise für ihren Charakter.
Gestern erst hatte Charlotte wieder auf ihn eingeredet, dass sie Angst habe vor dem Tag, an dem Ute es merken würde und dass sie sowieso nicht glauben könne, dass sie immer noch ahnungslos sei. Sie fühle sich als wandelndes schlechtes Gewissen, wenn sie ihr im Institut begegne und habe immer das Gefühl, es sei ihr auf die Stirn geschrieben und sie könne die Situation nicht mehr lange so aushalten. Er seufzte. Er konnte sie ja verstehen. Natürlich war es alles mit großen Einschränkungen verbunden, sie konnten ja nicht einmal einfach in der Stadt essen gehen, weil immer die Gefahr bestand, es könnte ihnen irgendjemand von der Uni begegnen. Selbst telefonieren war kaum möglich, weil er keine Gefahr eingehen wollte, dass Ute etwas mitbekam und in seinem Büro in Paris war er auch selten ungestört. Der Anruf außerhalb auf dem Handy war selbstverständlich möglich, aber teuer, das ging auch nicht zu häufig. Charlotte telefonierte aber sowieso nicht gerne, es war eher das Problem, dass sie aufgebracht war, weil sie ihn nicht immer erreichen konnte, wenn ihr danach war und ihr Austausch in der Regel nur über Mails stattfand.
Er selbst litt auch mehr und mehr unter der Situation zu Hause. Er gab sich längst nicht mehr so viel Mühe wie am Anfang vor Ute so zu tun, als sei alles in Ordnung, aber er durfte es auch nicht übertreiben mit seiner schlechten Laune ihr gegenüber. Zum einen hatte sie es nicht verdient und zum anderen konnte er es sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht leisten, dass die Situation eskalierte.
Seufzend schob er seine Unterlagen zur Seite und stand auf. Es hatte keinen Sinn, er kriegte doch keinen Kopf daran. Er würde noch kurz eine Runde durch den Park spazieren gehen, bevor der Besuch kam.

*****

Susanne saß vor dem Kamin und strickte an dem Schal, den sie Ute zu Weihnachten schenken wollte. Sie musste an gestern Abend denken. Irgendwie hatte sie ein seltsames Gefühl bei Lars gehabt. Sie verstand nicht, warum Ute es offenbar überhaupt nicht seltsam fand, dass er über eine Stunde zu spät gekommen war, obwohl er mit der Bahn gerade einmal zehn Minuten bis zum Rudolfplatz fuhr. Er hatte etwas gemurmelt, dass die Bahnen durch das Schneetreiben gestört gewesen wären. Das war sicherlich richtig, aber sie hatte immer wieder Bahnen fahren sehen, die Haltestelle war direkt gegenüber vom Glühweinstand gewesen und sie war sich sicher, dass in dieser Zeit mindestens drei Bahnen gekommen waren.
Als sie dann gemeinsam am Glühweinstand gestanden hatten, meinte sie, einen seltsamen roten Fleck an seinem Hals gesehen zu haben, aber sie hatte es nicht richtig erkennen können, da der Fleck immer wieder von seinen Haaren verdeckt worden war. Vielleicht fing sie auch schon an Gespenster zu sehen. Sie hatte gerade einen Roman gelesen, in dem es um eine Frau ging, die von ihrem Mann nach Strich und Faden betrogen worden war und sie neigte nach ihren Lektüren immer dazu, den Inhalt auf den Alltag zu übertragen. Im Buch davor war eine Frau vom Paketboten ermordet worden und sie hatte danach allen Ernstes über Wochen den Paketboten misstrauisch beäugt. Vielleicht verdächtigte sie Lars nun also zu Unrecht. Trotzdem, sie würde Ute in den nächsten Tagen nochmal darauf ansprechen, warum Lars eigentlich so spät gekommen war, das nahm sie sich fest vor. Ob sie sie auch nach dem roten Fleck fragen würde, wusste sie noch nicht. Vielleicht hatte sie sich auch verguckt bei all den Lichtern auf dem Weihnachtsmarkt.

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